In Brüssel scheiden sich am «Anti-LGBTQI-Gesetz» die Geister – die Werteunion auf dem Prüfstand

Das vor Kurzem in Ungarn verabschiedete, von Kritikern genannte «Anti-LGBTQI-Gesetz» wird vom einen Teil der EU-Mitgliedsstaaten scharf kritisiert, vom anderen Teil passiv oder aktiv unterstützt. Zweifel an gemeinsamen Werten der Union kommen auf und in Brüssel werden Diskussionen über rechtliche Schritte gegen Ungarn geführt – Doch wie steht es eigentlich genau um die Werteunion?


Louis Schäfer,

 

Ursula von der Leyen äusserte an einer Pressekonferenz im Juni ’21 Bedenken am ungarischen Gesetz. (AFP)
 

Anfang Juni ’21 stimmten im ungarischen Parlament 157 Abgeordnete für ein Gesetz, welches laut Kritikern Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren würde. Das Gesetz sieht ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Inhaltsträgern für Jugendliche und Kinder vor, in denen eine, von der Heterosexualität abweichende Sexualität darstellt wird. Weiter verbietet das Gesetz Werbungen, in denen Homo- oder Transsexualität als Teil der Normalität erscheinen. Das Gesetz schränke die Meinungsfreiheit ein sowie LGBTQI-Informationsrechte, heisst es vonseiten der Kritiker. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban weist hingegen jegliche Kritik von sich: Seiner Ansicht nach richte sich das Gesetz nicht gegen Homo- oder Transsexuelle, sondern würde dem öffentlichen Raum lediglich die Aufgabe der Sexualerziehung von ungarischen Kindern entziehen.

 

Diese Argumentation Orbans wird von Teilen der ungarischen Öffentlichkeit abgelehnt und so ereignete sich bereits, während im Parlamentsgebäude über das Gesetz abgestimmt wurde, eine grosse Protestaktion in Budapest. Auch in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien solidarisierten sich verschiedene Akteure mit der LGBTQI-Bewegung. So forderte die Münchner Regierung mit vielseitiger Unterstützung, dass das Berliner Fussballstation während des Deutschland-Ungarn-Spiels in Regenbogenfarben leuchten solle. Dass die UEFA das Begehren schliesslich mit der Begründung ablehnte, die UEFA sei eine politisch neutrale Organisation, stiess in Teilen der Medien und Öffentlichkeit wiederum erneut auf harsche Kritik.

 

In der Europäischen Union scheiden sich die Geister am ungarischen Gesetz: So unterzeichneten lediglich 14 der 27 EU-Mitgliedsstaaten eine Deklaration gegen die “Anti-LGBTIQ-Gesetze” in Ungarn. Auffällig ist hierbei, dass ein Grossteil der Staaten, welche die Deklaration nicht unterzeichneten, in Südost- und Mitteleuropa gelegen sind. All diese Staaten (abgesehen von Portugal und Griechenland) sind der EU erst in den Jahren 2004 – 2013 beigetreten und viele waren bis 1991 Teil des Warschauer Pakts, standen somit jahrzehntelang unter sowjetischem Einfluss. Die bezüglich des “Anti-LGBTQI-Gesetzes” zweigeteilte Union ist ein Hinweis darauf, dass in den verschiedenen Regionen Europas unterschiedliche Werte wichtig sind. Es stellt sich die Frage, welche gemeinsamen Werte die Mitgliedsstaaten der EU aufweisen und wo es Unterschiede gibt.

 

Die ‹Deklaration gegen die Anti-LGBTIQ-Gesetze› wird nicht von allen Mitgliedsstaaten unterzeichnet

In Teilen Mittel-, Süd-, Südost- und Südwesteuropas findet das Anliegen keine Unterstützung

Map: GADM maps and data

Europäische Union und Demokratie

Ein wichtiger Wert scheint in der Union die Demokratie zu sein. So wurden in den Eurobarometern 74 (2010) und 89 (2018) die EU-Bürger befragt, welche Werte die EU am ehesten repräsentieren würde: Die drei meistgenannten Werte waren sowohl 2010 als auch 2018 “Frieden”, “Menschenrechte” und “Demokratie”. Im Rahmen des EVS (2017) wurde anhand eines Items gefragt, wie wichtig es für EU-Bürger sei, in einer Demokratie zu leben. Die Analyse des Items zeigt: In allen Regionen Europas ist es einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung wichtig in einem demokratischen System zu leben. Die höchsten Werte sind dabei in Nord-, Süd-, Mittel-, West- und Südosteuropa zu sehen. In diesen Regionen hat jeweils die absolute Mehrheit der Befragten die höchste Antwort Kategorie “10: Absolutely important” angegeben. In den anderen Regionen verpasste die Kategorie “10” die absolute Mehrheit zwar knapp, aber dennoch ist in diesen Regionen die Unterstützung für Demokratie bemerkenswert hoch.

 

Für eine grosse Mehrheit der Bewohner Europas ist Demokratie wichtig

‘How important is it for you to live in a country that is governed democratically?’

Data: gesis

 

Die Europäische Union als Institution kommt hingegen bei Teilen der EU-Bevölkerung weniger gut an. Im EVS (2017) wurden die EU-Bürger unter anderem befragt, wie gross ihr Vertrauen in die Europäische Union sei. Bezüglich der Vertrauensfrage hatten die Befragten dabei 4 Antwortmöglichkeiten zur Auswahl: zwei Antwortmöglichkeiten verwiesen auf ein geringes bis sehr geringes und zwei Antwortmöglichkeiten auf ein hohes bis sehr hohes Vertrauen in die EU. Letztere beiden Kategorien wurden für die untenstehende Grafik zusammengefasst. Die Analyse zeigt, dass lediglich in drei Teilregionen Europas (West-, Ost- und Südwesteuropa) eine absolute Mehrheit der Bürger ein hohes bis sehr hohes Vertrauen in die Union aufweisen. Bemerkenswert ist hierbei, dass in Osteuropa das Vertrauen in die EU relativ hoch ist und in Nord-, Mittel- und Südwesteuropa hingegen relativ gering.

 

Lediglich in West-, Ost-, und Südosteuropa ist ein hohes Vertrauen vorhanden

Gering erscheint das Vertrauen insbesondere in Südeuropa

Data: gesis

Materialistische und postmaterialistische Werte

Die Verteilung von materialistischen und postmaterialistischen Werten zeigt ebenfalls einen Unterschied zwischen den Regionen Europas auf. Im EVS (2017) wurde den Studienteilnehmern zur Erfassung von postmaterialistischen bzw. materialistischen Werten vier Auswahlmöglichkeiten gegeben: zwei Auswahlmöglichkeiten waren materialistische (“Maintaining order in natiom”, “fighting rising prices”) und zwei postmaterialistische Werte (“More say in important government decisions” und “protecting freedom of speech”). Aus diesen Möglichkeiten sollten die Teilnehmer zwei Werte bestimmen, die ihnen am wichtigsten erschienen. Eine Person wurde so als “materialistisch” codiert, wenn sie zwei materialistische Werte nannte, als “post-materialistisch”, wenn sie zwei postmaterialistische Werte nannte, und als postmaterialistisch-materialistisch, wenn sie sowohl einen materialistischen als auch einen postmaterialistischen Wert wählte. Die Analyse zeigt auf, dass in allen Regionen, die postmaterialistisch-materialistischen Personen mit über 50% am stärksten vertreten sind. Auffällig ist aber, dass in Süd-, Südwest-, Südost- und Osteuropa materielle Werte mit ca. 30- 32% vergleichsweise häufig vorkommen.

 

Materialistische Werte bleiben in Europa vielerorts wichtig

In Süd-, Südwest- und Südosteuropa vertreten über 30% der Befragten materialistische Werte

Data: gesis

 

Wenn für das vorhin genannte Item lediglich die Antwortkategorie “protecting freedom of speech” analysiert wird, zeigt sich schliesslich, dass es zwischen den Regionen Europas bezüglich ihrer Wertevorstellungen grosse Unterschiede gibt. Die Länder, welche die Deklaration gegen die “Anti-LGBTIQ-Gesetze” nicht unterstützen, sind auch diejenigen, in welchen die freie Meinungsäusserung eine relativ untergeordnete Rolle spielt. Lediglich in 7 EU-Staaten konnte für die freie Meinungsäusserung eine absolute Mehrheit erzielt werden. Materielle Werte bleiben in vielen Regionen Europas wichtig.

 

Der Schutz der Meinungsfreiheit ist der Bevölkerung nicht überall gleich wichtig

In Teilen Ost- und Südosteuropas wurde sie besonders wenig genannt

Map: GADM maps and data, Data: gesis

 

Fazit

Aufgrund der vorgehenden Analysen erstaunt es nicht, dass in West-, Nord- und Südwesteuropa Ungarns Politik durch die Öffentlichkeit relativ stark kritisiert wird. Es sind auch die Regierungen dieser Staaten, die gegen das «Anti-LGBTQI-Gesetz» im Rahmen der Union rechtlich vorgehen wollen. Dass die Kritik an Ungarn in Südost- und Teilen Mitteleuropas wenig gehört wird, erstaunt aufgrund der gezeigten Analysen ebenfalls nicht. In der Diskussion um die Werteunion sollte stets im Hinterkopf behalten werden, dass die Länder Europas unterschiedliche historische Hintergründe und somit auch unterschiedliche Kulturen/ Werte aufweisen. Dass die demokratische Staatsform überall in Europa als wichtig erachtet wird, bildet sicherlich eine gute Grundlage dafür, um eine Gemeinschaft zu erarbeiten, welche für alle Bürger ein bestmögliches Leben ermöglicht. Allerdings dürften in der Union, was andere Werte anbelangt, noch einige Diskussionen vonnöten sein.

 

Daten

Die drei Grafiken wurden mit Daten der European Values Study 2017 erstellt. Die European Values Study (EVS) ist ein “grossangelegtes, grenzüberschreitendes, wiederholtes Querschnittsforschungsprogramm zur Erhebung von grundlegenden menschlichen Werten” in der Europäischen Union. Daten waren allerdings lediglich für die aufgezeigten Nationen vorhanden.

Analyse

Die vorliegende Analyse kratzt lediglich an der Oberfläche einer äusserst spannenden Thematik, welche weiterer Betrachtung und Erforschung bedarf. Die Validität der Analyseergebnisse muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Analyse der Werteunterschiede lediglich auf Basis von wenigen Indikatoren einer einzelnen Studie durchgeführt wurde. So können die Ergebnisse der Analyse allenfalls angezweifelt werden.